Wenn die Finger nicht mehr mitspielen. |
Victor Candia begann sich auf sein Diplom-Konzert vorzubereiten, als plötzlich seine Finger unwillkürlich verkrampften. Er brachte keine Passage mehr fehlerfrei aus seiner Gitarre. Statt den Mut zu verlieren, wälzte er Bücher, um sein Krankheitsbild zu finden: Fokale Dystonie, der „Musikerkrampf“. Er lernte so viel über Funktionieren des menschlichen Gehirns, dass er ein gefragter Wissenschaftler wurde. Heute forscht er am Collegium Helveticum. Aufgewachsen ist Victor Candia (Jahrgang 1966) im Süden Chiles in der Stadt Puerto Montt. Schon früh begann der zu musizieren und bekam mit fünf Jahren seine erste Gitarre. Mit 15 Jahren erlaubten ihm seine Eltern, zum Studieren an die Universität nach Santiago zu gehen. Es war ein besonderes Programm für angehende Musiker: Vormittags ging er auf die Sekundarschule und nachmittags ans Musikkonservatorium der Fakultät der Künste. Später wechselte er an die Katholische Universität, wo auch sein Bruder studierte. „Aber das Geld reichte nicht für die teuere Ausbildung von uns beiden“, erinnert er sich. Victor, inzwischen 23, musste er sich etwas einfallen lassen. Santiago, New York, Trossingen Er versuchte sein Glück in den USA zu finden. Alles, was seine Eltern beisteuern konnten, war das Flugticket. „In New York landete ich mit nur ein paar Dollar im Gepäck und der Adresse der Tante einer Freundin – aber sie nahm mich auf wie einen Sohn.“ Er ergatterte einen Studienplatz am New Yorker Mannes College of Music. Um die Welt kennen zu lernen, ging er über den Sommer nach Europa. „Eine Bekannte sagte mir noch in Santiago, ich solle ihre Eltern bei Stuttgart besuchen.“ In Deutschland angekommen und abermals mit offenen Armen empfangen, erfuhr er, dass er keine Unterstützung aus Chile und ein viel zu kleines Stipendium in den USA erhalten werde. Damit war es nicht mehr möglich, in New York zu studieren. „Jeden Tag lernte ich einen Satz. Und nach drei Monaten begann ich beim Mittagessen, nur noch deutsch zu sprechen“, erinnert sich Candia. Nach einem Jahr hatte er einen Studienplatz an der Musikhochschule im württembergischen Trossingen. Drei Jahre lang studierte er Musik mit dem Schwerpunkt Gitarre. Kurz vorm Diplomkonzert versagten die Finger Kurz vor seinem Abschluss kaufte er sich in Chile noch ein neues Instrument. Doch als er sich zum Üben die neue Gitarre in die Hand nahm, war es aus: „Unwillkürlich rollten sich beim Spielen meine Finger ein wie eine Kralle und verkrampften.“ Candia lief von Arzt zu Arzt, doch niemand konnte ihm helfen. „Ich war damals weniger verzweifelt, dass ich nicht mehr spielen konnte, sondern vielmehr darüber, nicht zu wissen, was ich habe und woher es kommt.“ Also wälzte Bücher über Psychologie und Neurologie, um sein Krankheitsbild zu finden: Fokale Dystonie, der „Musikerkrampf“. Immer mehr vertiefte er sich in das Thema. Vom Musiker zum Neurowissenschaftler 1993 wagte der damals 27-Jährige sein drittes, ein Studium Psychologie an der Universität Konstanz, „weil es dort besonders biologisch orientiert ist“. In einer Vorlesung bei seinem späteren Doktorvater Thomas Elbert kam ihn dann die entscheidende Erkenntnis: „Es muss mit der Repräsentation von Bewegungen und Sinneseindrücken im Gehirn zu tun haben.“ Wieder hatte Candia Glück: Bei seinem Praktikum an der Uniklinik Konstanz konnte er sich voll und ganz seinem Forschungsprojekt widmen: Einer Therapie zur Behandlung der Fokalen Dystonie. Nach einem Jahr veröffentlichte er zusammen mit Thomas Elbert seine erste wissenschaftliche Arbeit. Musikerkrampf: Ursache im Gehirn Die Ursache für die Krankheit liegt offenbar nicht in den Muskeln, sondern im Gehirn: Hohe neuronale Aktivität fördert das Wachstum von Nervenzellverbindungen. Häufig gebrauchte Hirnregionen dehnen sich aus. Genauso wie andere Körperteile werden auch die Finger auf der Grosshirnrinde in der Region für Körperwahrnehmung und Bewegungssteuerung repräsentiert, auf dem sensorischen und motorischen Kortex. Bei der fokalen Dystonie ist die Abstimmung zwischen Kortex und Bewegungsapparat gestört. Als mögliche Ursache wird angenommen, dass die entsprechenden Regionen der Abbildung so sehr vergrößert sind, dass sie sich überlappen und somit angrenzende Motoriken ausgelöst werden: Der Mittelfinger soll sich bewegen, der Ringfinger wird aber mit angesteuert usw. Intensives Üben kann schaden Allzu intensives Üben kann also verheerend sein. Zudem gibt es kein Warnsignal, keinen Schmerz vorher. Die Verkrampfung kann nicht nur Musiker, sondern auch Sekretärinnen, Uhrmacher oder Chirurgen heimsuchen – also alle, die komplexe Bewegungsabläufe immer wiederholen. Falsche Bewegungsprogramme brennen sich ins Gedächtnis ein und sind nur schwer auszutauschen. Candias Therapie zielt darauf ab, das fehlerhafte Muster zu unterbrechen und es durch ein neues zu ersetzen. Auf die Idee kam er, als er mit seiner eigenen Hand experimentierte: Mit einer Schiene werden die Finger fixiert. Dadurch werden die Finger aus ihrer verkrampften Haltung gebracht und können ein neues Bewegungsmuster einstudieren. Therapie zeigt Erfolge Erste Therapieerfolge stellen sich schon nach kurzer Zeit ein, die Übungen müssen aber über Monate oder Jahre fortgesetzt werden. In einer Studie konnte Candia zeigen, dass die Therapie zu physiologischen Veränderungen im Gehirn führt: Nach der Behandlung sind weniger Nervenzellen in den betroffenen Arealen des Gehirns aktiv. Seit einem Jahr ist der Familienvater wissenschaftlicher Mitarbeiter im Collegium Helveticum. Im interdisziplinären Forschungsinstitut von Universität und ETH Zürich beschäftigen sich derzeit Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen mit der „Rolle der Emotionen im menschlichen Handeln und deren Bedeutung für die Setzung sozialer Normen“. Collegium: Eigene Identität schärfen Candia nennt diese Stelle als seine „aufregendste“. Er freut sich über die Integration mit Forschern, die unterschiedliche Sprachen zu einem gemeinsamen Thema sprechen. „Ich arbeite Tür an Tür mit Kollegen, die potenziell Antworten auf alle Fragen geben können, die man schon immer gehabt hat, aber auf deren Antworten man mit seinen eigenen Mitteln nicht kommt. Wir geben unsere eigene Identität als Wissenschaftler nicht auf, sondern bewahren und erweitern sie durch die aus der interdisziplinären Arbeit neu gewonnenen Ansichten.“ Seine Gitarre hat Candia seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen. Jetzt konzentriert er sich voll auf seine Forschung. Deshalb hat er seine eigene Therapie an sich auch noch nicht zu Ende geführt. |
Forschung und Musik sind Victor Candias Leidenschaften.
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